Wer erzählt uns Afrika?

Ich war als Kind keine große Esserin und sehr schmal. Wenn ich nicht aufessen wollte, sagten mir meine Eltern, ich solle froh sein über das gute Essen und den Teller zusammenputzen, weil in Afrika verhungern die Kinder. Die Kinder dort wären froh, wenn sie das, was auf meinem Teller hin und hergeschoben wird, zu essen hätten. Meine kindliche Antwort darauf war, dann schicken wir ihnen doch einfach meine Reste, was die Erwachsenen mit einem hilflosen Achselzucken abtaten. Ich bin 1977 geboren, doch diese elterliche Ermahnung hat sicher den Ursprung im Biafra Krieg, der von 1967-1970 dauerte. Die Fotos von Kindern mit aufgeblähten Bäuchen und knochendünnen Gliedmaßen kamen damals nach Europa.

Die nigerianische Autorin Chamamanda Ngozi Adichie hat einen sehr starken Roman komponiert, der die Abspaltung Biafras von Nigeria und den darauffolgenden Krieg als Hintergrund für eine Familiengeschichte nimmt.

Nigeria

In Nigeria der 60iger Jahre tritt der dreizehnjährige Bursche Ugwu seine ersten Stellung als Houseboy beim Universitätsprofessor Odenigbo an. Odenigbo ist gut zu dem Jungen und ermöglicht ihm neben seinen Haushaltstätigkeiten eine Schulbildung. Der Professor unterhält einen Kreis von Freunden, die ihn regelmäßig besuchen. Er lernt die schöne und ebenfalls an der Universität tätige Olanna kennen. Olanna kommt aus einer höheren Schicht und ihre Eltern versuchen sie mit wichtigen Männern zu verkuppeln, um des Vaters manchmal halbseidene Geschäfte anzuregen, aber die eigensinnige Olanna weigert sich. Sie findet den intellektuellen Odenigbo attraktiver. Olannas ungleiche Zwillingsschwester Kainene ist von Haus aus spröder, und taugt weniger als Köder für Männer. Sie hat einen ausgezeichneten Geschäftssinn, ist sehr direkt und manchmal auch zynisch. Sie verliebt sich in den zurückhaltenden Briten Richard, der sich in Nigeria zu einem Roman inspirieren lassen will.

Die geselligen Uni-Diskussionsabende werden hitziger, die Zeiten ändern sich. Krieg ist in Aussicht und eine ungewollte Schwangerschaft nagt an der Beziehung von Olanna und Odenigbo. Nigeria hatte nach Weggang der Briten die Praxis alle offiziellen Ämter mit Menschen aus dem Norden, also hauptsächlich mit moslemischen Hausa zu besetzen. Die Minderheit der christlichen Igbos begann sich dagegen zu wehren. Zwei Putsche und brutale Massaker an den Igbos im Norden Nigerias waren die Folge. Olanna muss bei einem Besuch im Norden zufällig mitansehen, wie ihr wichtigen Menschen grausam umkommen. Sie flüchtet schnell wieder zurück in die südliche Universitätsstadt wo langsam die Pläne für die Abspaltung von Nigeria reifen. General Ojukwu ruft die Republik Biafra aus. Es folgt ein drei Jahre dauernder Krieg, der das junge Land aushungert. Auch die Protagonisten müssen fliehen, und ihre bequeme Situation der oberen Mittelschicht verlassen. Olannas Eltern gehen nach London, aber die Zwillinge bleiben im Land, um das junge Land zu unterstützen und sich am Entstehen zu beteiligen. Doch sie verlieren viel. Auch sie, die immer wohlhabend waren, müssen irgendwann um die raren Hilfsgüter raufen. Die geschäftstüchtige Kainene betreibt, nachdem keine Geschäfte mehr möglich sind, ein Flüchtlingslager. Richard schreibt über Biafra für ausländische Medien. Olanna unterrichtet, Ugwu wird in die Armee eingezogen.

Der Krieg geht zu Ende, Biafra gehört wieder zu Nigeria, aber die Wunden bleiben. Und auch unter den Protagonisten fordert der Krieg ein Opfer.

Die Figuren

Der Roman ist großartig! Das vielfältigen Figurenset vom Hausboy, über die verwöhnten Mittelschichtschwestern, über die heiß diskutierenden Intellektuellen bis zum zurückhaltenden Vertreter der ehemaligen Kolonialherren tragen die Geschichte. Die Figuren machen Entwicklungen durch und sind nicht nur gut oder böse sondern sehr vielschichtig. Der erste Teil des Romans nimmt sich Zeit dem Leser diese Menschen vorzustellen und ihn in einen nigerianisches Alltag einzuführen. Ab dem Kriegsbeginn nimmt der Roman eine solche Fahrt auf, dass man ihn kaum weglegen kann. Ich war ein paar Tage komplett in Biafra gefangen, obwohl ich real am wunderschönen Faakersee war.

Biafra

Der Titel des Romans bezieht sich auf die Flagge von Biafra, die eine aufgehende Sonne zeigte. Bevor ich das Buch gelesen hatte, wusste ich, dass Biafra ein Land bezeichnet, wunderte mich aber, dass ich von diesem Land noch nicht mehr gehört hatte. Kein Wunder, es existierte nur kurz, und das vor meiner Geburt. Biafra wurde nur von 4 anderen Staaten anerkannt.

Man spürt, dass die Autorin ihre ganzes großes Herz in die Geschichte legt, diese Figuren zum Mitfiebern erschafft, und uns noch mit Informationen über einen Krieg versorgt, der in Europa fast vergessen ist. Wenn man über die Grausamkeiten liest, läuft einem beim Lesen die Gänsehaut hinunter. Und man fragt sich, wie die Welt bei einer solchen Aushungerung der Bevölkerung zusehen konnte. Der Buchanhang meiner Ausgabe (ich habe es auf Englisch gelesen) zeigt Fotos von den ausgemergelten Kindern des Krieges. Die Autorin hat die Geschichte ganz grob an die ihrer Eltern angelehnt. Sie hat Interviews geführt und im Land selber recherchiert.

Postkoloniale Konflikte

Viele Konflikte, die heute akut sind, haben ihren Ursprung in der Zeit der Kolonialherrschaft: der Kaschmirkonflikt, der in indischen Romanen immer wieder Thema ist, oder ganz aktuell die Unruhen in Hongkong (Romanempfehlung zum Opiumkrieg: Amitav Gosh: Die Flut des Feuers, Teil 3 aus der Ibis Trilogie, etwas langatmig, aber informativ).

In „Die Hälfte der Sonne“ wird verhandelt, wer die Geschichte Nigerias, Biafras, und damit auch die aller afrikanischen Länder erzählen darf. Im Roman wird der Brite Richard zwar zum Fürsprecher Biafras in europäischen Medien, doch die authentische Geschichte erzählt der gebildete Houseboy Ugwu. Traditionell erzählen die ehemaligen Kolonialherren über ihr Afrika, sowie Tanja Blixen in „Jenseits von Afrika“. Doch hier gibt es definitiv eine Weiterentwicklung durch Bildung und Annäherung der Länder. Sowie viele indische Autoren hat Chimamanda Ngozi Adichi einen Teil ihrer Ausbildung in der westlichen Welt erhalten und kann zwischen den Kulturen vermitteln. Daher haben wir Europäer haben nun das Glück, dass uns die kurze, brutale Geschichte Biafras von einer so talentierten Frau erzählt wird. Es war nicht der erste, aber definitiv nicht der letzte Roman, den ich von Chimamanda Ngozi Adichie gelesen habe.

Auch heute verhungern noch Kinder in Afrika. Ich bin nun selbst erwachsen und weiß, dass ich meine Essensreste nicht verschicken kann, aber mit Geld funktioniert das.


Chimamanda Ngozi Adichie
„Die Hälfte der Sonne“
Roman
Taschenbuch
Originalsprache: Englisch
Übersetzt von: Judith Schwaab
Preis € (D) 14,00 | € (A) 14,40
ISBN: 978-3-596-03548-9
640 Seiten,
FISCHER Taschenbuch