Parallelentwicklungen

Wenn das Buchcover eines Romans mit Hautfarben in verschiedenen Nuancen gestreift ist, weckt das die Erwartung, dass die Hautfarbe zum handlungstragenden Thema gemacht wird. Nur erfüllt der Roman „Brüder“ von der deutschen Autorin Jackie Thomea diese Erwartung nicht. Es geht um mehr, es geht um das Gesamtpackage des Lebens. Wir kommen mit gewissen Voraussetzungen in eine Welt, mit nicht von uns gemachten Regeln. Wir haben einen Charakter, wir setzen uns Ziele und wir treffen Entscheidungen. Das alles ist die Basis dafür, wie sich unser Leben entwickelt.

Brüder

Im Roman „Brüder“ geht es um das Leben zweier Brüder, die nichts voneinander wissen.

Im ersten Romanteil ist Michael, kurz Mick genannt, die Hauptperson. Sein Vater Idris kam als junger, afrikanischer Stipendiat zum Studieren in die DDR. Er lernte Micks emanzipierte Mutter Monika kennen, war aber nicht fest mit ihr liiert. Als Mick drei Jahre alt war, musste Idris wegen rassistischer Vorfälle die DDR verlassen und hatte nur mehr losen Briefkontakt zu Monika. Der sehr umgängliche Mick wuchs selbständig unbeschwert auf. Erst als Mick ein Teenager war, wechselte er mit seiner Mutter in die BRD, weil sie einen Westdeutschen heiratete.

Nach ein paar orientierungslosen Jahren, in denen er sich sogar gemeinsam mit seiner Freundin Delia als Drogenkurier versuchte, findet er sich in der Partyszene der jungen Hauptstadt Berlin ein, wo er Clubbetreiber wird. Er macht jeden Tag Party und lebt in den Tag hinein, als sich bei Delia der Kinderwunsch meldet. Mick kommt mit Menschen generell sehr gut zurecht, trägt aber nicht gerne Verantwortung.

Die Hauptfigur des zweiten Romanteils ist Gabriel. Gabriel hatte keine ersten Lebensjahre mit seinem Vater Idris erlebt, er hatte nur seine Mutter Gabriele. Als sie verunglückte, zog ihn sein deutsche Großvater auf. Gabriel studierte Architektur, ging nach London und fand in Fleur eine Frau, die er anhimmelte und mit der er einen Sohn bekam. Sein Architekturbüro wurde größer und größer, er stieg zu Berühmtheit auf. Doch das hat den Preis, dass er viele Jahre an seiner Belastungsgrenze lebte und ihn ein kleiner Vorfall total aus der Balance bringt. Es folgt ein tiefer Fall. Gabriels Leben wird vom Ehrgeiz getrieben. Er hält sich nicht gerne mit Unwesentlichem auf und spricht mit einer brutalen Ehrlichkeit.

Die Handlungsstränge der Brüder treffen sich erst am Schluss. Idris will sein Leben ordnen, nachdem er in der Zwischenzeit eine Familie und eine Klinik in Afrika aufgebaut hat. Er meldet sich bei seinen Söhnen.

Starke Themen

Jackie Thomae ist deutsche Journalistin und Autorin. Wie die beiden Protagonisten im Roman, hat auch sie einen in der Kindheit abwesenden Vater, der zum Studieren von Afrika nach Deutschland kam. Eine Frage des Romans war also, wie erzählt man als Deutsch-Guinea- stämmige Autorin über das Schwarzsein in Deutschland. Die Hautfarbe wirft in Europa nicht so tiefe Gräben auf, wie in den USA, wird aber wahrgenommen und zum Teil negativ besetzt. Im Roman wird Rassismus immer wieder thematisiert, doch es ist nicht die Hautfarbe, die das Leben der beiden Brüder maßgeblich bestimmt. Der Charakter und die Art wie sie aufwuchsen trugen viel mehr zum weiteren Lebenslauf bei, als die Pigmentierung ihrer Haut.

Gibt der Charakter vor, wie man sein Leben anlegt? Ist es Zufall oder Glück?

Kann man damit durchkommen, in den Tag hinein zu leben? Wie geht man mit Verbindlichkeiten um? Oder ist es besser, ein Ziel so konsequent zu verfolgen, dass man dabei vergisst auf seinen Körper zu hören? Beide Brüder haben sich verwirklicht, aber beide müssen einen Rückschlag hinnehmen. Natürlich ist der Fall, des unbekümmerten Micks nicht so hoch und er schafft es auch leichter ihn wegzustecken. Gabriel wirkt danach nachhaltig beschädigt.

Zeitgeschichte

Der Roman führt uns auch ein wenig durch die Zeitgeschichte unserer Jugend. Viele nette Details aus der Vergangenheit versetzen die Leserin in ein wenig nostalgische Stimmung. Mick ist mit einem typischen Wende-Lebenslauf ausgestattet. Es lernt noch das Handwerk des Zimmermanns in der DDR, dann fällt die Mauer, Berlin wird zur Partyhauptstadt. Aus Kassetten werden CDs. Die Welt steht offen, die Party beginnt, aber dafür braucht man Geld, also hilft man sie Party mitzuorganisieren. Nach dem Fall, reist man nach Thailand und wird Yogalehrer.

Im Handlungsstrang von Gabriel wurde die Architekturszene zumindest so gut recherchiert, wie man das von außen kann. Ich, als Nicht-Stararchitektin, habe keine Fehler gefunden. Richtig nachspüren konnte ich das Architektenleben aber im Roman nicht.

Den Roman „Brüder“ kann man sehr zügig lesen, da die ernsten Themen ohne Schwere und locker in recht salopper Sprache erzählt werden. Ich habe ihn sehr gerne gelesen, aber nach der Lektüre gedacht, der unaufgeregte Roman gibt leider nicht genug her für einen Blogbeitrag. Doch die ausschweifenden Diskussionen im Lesekreis über das Buch haben mich eines Besseren belehrt, „Brüder“ ist auf jeden Fall eine Lektüre wert.


Jackie Thomae „Brüder“ Erscheinungsdatum: 19.08.2019 432 Seiten Hanser Berlin

ISBN 978-3-446-26415-1 Deutschland: 23,00 € Österreich: 23,70 €