Gene und Gesellschaft

An diesen besonderen Roman habe ich im Sommerurlaub mein Herz verloren: „Mädchen, Frau, ect.“ von Bernardine Evaristo. Er ist inhaltlich warmherzig, sprachlich einzigartig und gleichzeitig auf der Höhe des kulturellen Diskurses. Mehr kann ich mir von einem Roman nicht wünschen. Ach ja, da ist noch ein Pluspunkt! Wie schon der Titel verrät, geht es um Frauen.

Theaterpremiere

Amma ist Mitte Fünfzig, lesbisch, schwarz und Theatermacherin. Bisher arbeitete sie in der Off-Szene und nun endlich stellt sich der Erfolg ein. Sie wurde eingeladen ein Stück für das renommierte Londoner National Theatre zu schreiben. Sie ist nun sehr nervös vor der Premiere ihres feministischen Stücks „Die letzte Amazone von Dahomy“.

In ihrer Jugend gründete sie gemeinsam mit ihrer Freundin Dominique eine feministische Off- Theatergruppe. Obwohl in zahlreichen lesbischen Beziehungen, überkommt sie nach dem Tod ihrer Eltern ein dringender Kinderwunsch. Mit einem schwulen Freund zeugt sie ihre Tochter Yazz.

Das Fiebern auf die Premiere des Stücks bildet die Rahmenhandlung des Romans. Inhaltlich widmet sich jedes Kapitel einer anderen Frau, im Anschluss an Ammas erstes Kapitel, wird das Leben ihre Tochter, der extrem woken Studentin Yazz betrachtet. Im dritten Kapitel geht es um die starke Dominique, die sich in eine Frau mit der unglaublicher Ausstrahlung einer Göttin verliebt und mit ihr nach Amerika geht.

So führt der Roman in zwölf Kapiteln zu zwölf Frauen, wobei immer drei Kapitel in direktem Zusammenhang miteinander stehen. Mit den Frauen aus den anderen Kapiteln gibt es oft nur kleine Berührungspunkte, bis zum Schluss ein Großteil der Figuren bei der Premierenfeier zusammengeführt wird. Jede der Frauen ist einzigartig und unvergesslich.

Schwarz

Schon der Titel „Mädchen, Frau, ect.“ diversifiziert. Es geht nicht nur um Frauen, nein auch um Mädchen, um transgender Personen, um nicht binäre Personen, aber auch am Rande um Männer. Alle Figuren haben ein gemeinsames Merkmal, sie sind schwarz. Wobei sich das nicht unbedingt in der Hauptfarbe ausdrückt, manchmal sind Spuren der afrikanischen Herkunft nur in den Genen zu finden. Sehr detailreich werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für schwarze Frauen geschildert in Großbritannien.

Die Autorin Bernardine Evaristo ist selbst eine schwarze, britische Frau, sie weiß also, wovon sie schreibt.

Eine Frau führt zur Anderen

Das Buch ist strukturell extrem gut gemacht. Man ist beim Start jedes Kapitels schon neugierig auf die nächste Frau, weil man aus den vorherigen Kapiteln schon Anhaltspunkte erhalten hat. Eine Geschichte entwickelt sich aus der vorhergehenden, und zeigt wieder neue Aspekte vom Schwarzsein in Großbritannien, vom Frausein in verschiedenen Zeiten, von Generationsunterschieden, vom Künstlerinnenleben, usw.. Der Roman ist reich an aktuellen Themen, es geht nicht nur um Hautfarbe und Weiblichkeit, auch um Klasse. Und der zusammenführende, versöhnliche Schluss lässt die Leserin glücklich und ein wenig gescheiter zurück.

Sprache

Sprachlich spielt der Roman in einer eigenen Liga. Der eigenwillige Stil, der mich auf den ersten beiden Seiten irritiert hat, hat mich dann magisch durch das Buch gezogen. Es gibt keine Satzzeichen. Sätze enden nicht, sondern werden in die nächsten Zeile weitergezogen. Die Worte werden dort in Kleinschreibung angeschlossen. Manchmal bleibt für die nächste Zeile nur ganz lyrisch ein einzelnes Wort über. Die Dreh- und Angelpunkte der Sprache sind die Namen, was eine schöne Dynamik erzeugt und den Inhalt der Frauenbeschreibungen auch sprachlich aufnimmt. Der Kern der Sprache und der Geschichte sind die Personen. So passt die Sprache perfekt zum Inhalt. Das fand offensichtlich auch die Jury des Booker Preises, die 2019 das Buch als besten englischsprachigen Roman auszeichnete.

Bernardine Evaristo

Bernardine Evaristo war die erste schwarze Autorin, deren Werk mit dem Booker Preis erhielt. Sie hat bisher sieben Romane und einen Gedichtband veröffentlicht. Zudem setzt sie sich seit vielen Jahren für schwarze Künstler*innen ein. Ich habe mir vorgenommen, mehr von ihr zu lesen, denn die Professorin für Kreatives Schreiben versteht ihr Handwerk.

Also: Große Empfehlung für einen tollen Roman (Männer sind natürlich mitgemeint)!


"Mädchen, Frau ect." von Bernardine Evaristo

Bernardine Evaristo

„Mädchen, Frau, ect.“

Tropen Verlag

25,00 EUR (D), 25,70 EUR (A)

Aus dem Englischen von Tanja Handels (Orig.: Girl, Woman, Other; Hamish Hamilton)
8. Druckaufl. 2021, 512 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50484-2