Festhalten am Stift

Seit ich im Homeoffice sitze, fehlen mir die Morgenseiten. Ich schreibe schon seit etlichen Jahren Morgenseiten. In Vor-Corona-Zeiten geschah das auf dem Weg ins Büro in der U4 von Hütteldorf nach Schottenring. Ich packte mein Notizbuch aus und schrieb, was mir gerade auf dem Herzen lag. Ich habe eine unleserliche Handschrift, sodass mein*e Sitznachbar*in zumeist nicht lesen konnte, was ich schrieb und falls doch, war es mir egal. In der Anonymität der Großstadt ist das öffentliche Schreiben privat.

Was sind die Morgenseiten?

“Schreiben Sie was immer Sie wollen, bis die 3 Seiten voll sind.“ Julia Cameron

Morgenseiten zu schreiben ist wirklich ganz einfach. Idealerweise schreibt man gleich nach dem Aufstehen in der Früh drei Seiten aus dem Bewusstseinsstrom. Alles was einem einfällt, alles was einen beschäftigt, es gibt kein richtig oder falsch.

Wie bin ich auf die Idee gekommen?

Ich habe einmal einer Freundin erzählt, dass ich Morgenseiten schreibe und nicht erwähnt, wie ich darauf gekommen bin. Sie war dann später überrascht, als sie herausgefunden hat, dass das auch andere Menschen machen und es keine Idee von mir ist. Sie sollte mich besser kennen: ich habe von den Morgenseiten natürlich in einem Buch gelesen. 🙂

Julia Cameron „Der Weg des Künstlers“

Julia Cameron ist eine Film- und Musicalautorin und Künstlerin, am Bekanntesten ist sie aber als Kreativitätstrainerin. Als Zusammenfassung für ihre Kreativ-Workshopteilnehmer schrieb sie 1992 das Buch „Der Weg des Künstlers“, das auch als Selbstlernkurs funktioniert und mittlerweile ein Klassiker und Weltbestseller ist.

In einem 12-Wocheprogramm lotst Cameron aufkeimende oder blockierte Künstler zurück zu ihrer Schaffenskraft. Sie gibt mit Hingabe weiter, was sie weiß. Sie glaubt daran, dass die Kreativität mit der Spiritualität verbunden ist und auch dass in jedem Menschen ein Künstler steckt. Das ist sehr ermutigend.

Zuerst werden Glaubenssätzen und Hindernisse ausgemistet, dann wird die Kreativität gestärkt. Es gibt für jede Woche und für jedes Thema Übungen, die meist mit Stift und Papier zu bewältigen sind. Das Wesentliche tut sich dabei im Kopf und im Herzen. Über alle Wochen hinweg sollte man täglich Morgenseiten schreiben und einen wöchentlichen Künstlertreff zur Stärkung der Kreativität beibehalten.

In dem Fall kann ich ehrlich sagen, dass die Lektüre mein Leben verändert hat. Aber nicht nur, weil ich das Buch gelesen habe, sondern weil ich die Morgenseiten in mein Leben aufgenommen habe.

Was schreibe ich auf diesen 3 Seiten?

Ich schreibe alles, was ich denke. Ohne Zensur. Meist denke ich schneller, als ich schreibe, also hechle ich mit dem Stift hinterher. Meist geht es zuerst um Befindlichkeiten. „Ich bin müde“, kommt fast in jedem Eintrag, seit ich Kinder habe. „Das Gegenüber in der U-Bahn liest ein interessantes Buch, das Gegenüber telefoniert zu laut.“ Dann kommt, was mich in den letzten Tagen beschäftigt hat, wie das Wetter ist. Meistens fallen mir dann ein paar konkrete ToDos ein, die ich noch erledigen muss. Und dann denke ich auch über Bücher, über Filme oder über meine Kinder nach. Meist nicht zusammenhängend. Ich schweife gerne ab. Das darf sein. Mir fällt auf, dass ich oft beginne abzuschweifen,wenn es zum Kern der Sache geht. An guten Tagen kann ich mich dem Kern nähern. An instabilen Tage, schweife ich eben ab. Mittlerweile weiß ich, Probleme kommen so oft zu einem, bis man sie gelöst hat.

Was passiert beim Schreiben?

Ich weiß nach dem Schreiben, was mich beschäftigt, weil der innere Zensor durch das anhaltende Schreiben ausgeschaltet wird. Ich komme zu mir. Ich bringe Struktur in meine Gedanken. Ich komme auf Lösungen. Ich bin viel kreativer, ich entwickle Ideen. Ich kann mein Leben besser steuern, weil ich weiß, wo ich mich im Moment befinde. Es ist eine Art Therapie. Es schult das Handgelenk. Es ist eine Art Meditation. Und obwohl ich täglich meditiere nutze ich die Morgenseiten als sinnvolle Ergänzung. Die Morgenseiten sind konkreter. Sie sind einfacher umzusetzen. Sie sind zugänglicher. Sie sind weniger esoterisch oder religiös aufgeladen.

Was mache ich mit dem Geschriebenen?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich die Notizbücher ganz selten durchlese und es daher sinnvoll ist, die ToDos, Ideen und Gedanken, die ich festhalten und umsetzen will, sofort in meinen Kalender zu übertragen. Trotzdem sammle ich die Morgenseitenbücher. Und wenn ich einmal in eines hineinlese, funktionieren die Worte wie eine Zeitmaschine, ich bin sofort in der Stimmung, in der ich mich beim Schreiben befunden habe.

Wenn ich nicht schreibe

Nun, wo ich kaum noch Morgenseiten schreibe, fühle ich mich oft orientierungslos und alleine. Meine Projekte zerfransen und ich verwende meine Zeit weniger sinnvoll. Ich bin den Launen des Lebens ausgeliefert. Und ich muss mich öfter bei realen Personen ausjammern, die das nicht so stoisch ertragen, wie das geduldige Papier.

Es hat ein wenig gedauert, bis ich darauf gekommen bin, dass nicht nur die Corona-Krise schuld an meiner momentanen Orientierungslosigkeit ist, sondern meine fehlende Reflexion.

Im Homeoffice habe ich noch kein fixes Zeitfenster für das Schreiben gefunden. Es ist sehr hektisch in der Früh, vielleicht werden es eher Abendseiten. Wenn man eine Tätigkeit zu einer Angewohnheit machen will, sollte man sie zuerst an 21 aufeinanderfolgen Tagen praktizieren.

Es wird Zeit, wieder täglich zum Stift zu greifen. Tag 1.


Julia Cameron

„Der Weg des Künstlers – Ein spiritueller Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität“

ISBN: 978-3-426-87867-5

Übersetzt von: Dr. Ute Weber

Verlag: Knaur MensSana TB

352 Seiten, Taschenbuch 10,99 € (A)

https://juliacameronlive.com/