Überlänge

Lebensfilm

Es gibt Filme, die begleiten einem das ganze Leben. Mein Lebensfilm ist „Jenseits von Afrika“. Ich träume mich einmal im Jahr in diesen Film hinein. Ich bin dann Karen Blixen, die auf ihrer Farm in Kenia durch all die spannenden und schmerzlichen Erfahrungen muss. Je nach dem, wo ich im Leben gerade stehe, gibt mir der Film eine passende Botschaft mit. Früher ging es um enttäuschte Liebe und Freiheit in Beziehungen, dann um die Anstrengungen im Beruf, dann ging es um Mut. Das letzte Mal erzählte mir der Film von der Zerstörung der Natur. Robert Redford sagt im Film, dass Karen sich das Land noch ansehen muss, bevor alles zerstört wird. Ich muss also nun nach Kenia.

Aber heute soll soll es nicht um Leben und Werk von Karen Blixen gehen, sondern um einen ganz anderen Roman. Auch Max, der Protagonist vom Roman „Max, Mischa und die Tet-Offensive“ von Johan Harstad, hat so einen Lebensfilm. Ihn hat „Apocalypse Now“ so gefesselt, dass er sich in seinem Leben immer wieder auf ihn bezieht und Botschaften daraus entnimmt.

Max

Max Hansen wächst als einziger Sohn von kommunistisch eingestellten Eltern in Norwegen auf. Als er zwölf Jahre alt ist, beschließen seine Eltern aus beruflichen Gründen in die USA auszuwandern. Max findet diese Entscheidung nicht gut und tut sich sehr schwer in der neuen Heimat Freunde zu finden. Schon damals fasziniert ihn der Vietnamkrieg und der Film „Apocalypse Now“. Als zufällig beim Schwimmtraining der gleichalte Mordecai Textausschnitte aus dem Filmepos zitiert, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden Buben.

Fortan sind die beiden unzertrennlich, die können stundenlang über Bücher und Filme reden. Die Freundschaft wird intensiviert, weil beide noch in der Schule mit der Schauspielerei beginnen. Mordecai macht das später beruflich und Max wendet sich der Regie zu. Mordecai macht Max mit seiner Betreuerin im Sommercamp bekannt: mit der sieben Jahre ältere Mischa, einer selbständigen Künstlerin. Max beginnt eine Beziehung mit Mischa. Max und Mischa landen nach Max Schulabschluss in New York, wo sie seinen Onkel Ove suchen und finden. Ove, der sich nun Owen nennt, war schon vor langer Zeit aus Norwegen ausgewandert, um Jazzmusiker zu werden. Um die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen, entschied er sich, sich für den Einsatz im Vietnamkrieg freiwillig zu melden. Wieder zurück, verdiente er seinen Unterhalt als Komponist für Gebrauchsmusik. Der Onkel und der Neffe verstehen sich gut und so kommt es zu einer ungewöhnlichen Wohngemeindschaft in Owens Wohnung im New Yorker Apthorp Gebäude.

Schöner Wälzer

Der Roman „Max, Mischa und die Tet-Offensive“ ist ein Wälzer von 1242 Seiten, den ich irrsinnig gerne gelesen habe. Ich war gerne in der Geschichte des zweifelnden Max zu Gast. Er fühlt sich meist nicht so wohl in seiner Haut, zweifelt an allem, was er tut. Aber hat Menschen um sich, auf die er sich verlassen kann. Doch nicht nur Max erzählt dem Leser aus seiner Perspektive, auch Ove/Owen, darf seine Geschichte direkt berichten. Ove ist verschlossener als Max. Er macht sich Dinge mit sich selbst aus. Der Onkel entscheidet still für sich, dass es Zeit zum Auswandern ist und nimmt nur einmal wieder Kontakt zu seiner Familie in Norwegen auf, als er entscheidet, nach Vietnam zu gehen. Owen ist gleichzeitig auch sehr pragmatisch, er sieht, dass sein musikalisches Talent nicht fürs im Jazz notwendige Improvisieren reicht und richtet sich als Komponist für Gebrauchsmusik ein.

Die Stärke des Romans ist die Schilderung der Entwicklung der Gefühle, die Beschreibung der Seelenzustände und Beweggründe. Es geht um die Entwicklung und Reifung von Personen. Auch die Orte und die Zeit spielen eine Rolle. Große historische Begebenheiten, wie natürlich der Vietnamkrieg, aber auch 9/11 oder der Hurrikan Sandy dienen der zeitlichen Einordnung. Es geht um Heimat und um Liebe, es geht um die Familie und die Stationen im Beruf und im Leben.

Max wird auf seinem Weg vom Film „Apocalypse Now“ begleitet. Immer wieder findet er Vergleiche, immer wieder sieht er sich an Stationen der Reise den Fluss hinauf angelangt.

Apocalypse Now

Ich hatte den Film „Apocalypse Now“ von Francis Ford Coppola schon gesehen, aber während der Romanlektüre hatte ich das Gefühl, ich müsse meine Eindrücke auffrischen. Daher recherchierte ich, wann der Film im Fernsehen kam und pausierte mit dem Buch bis dahin. Ich nahm die 202 Minuten lange „Redux“-Fassung (= Directors Cut) auf und schaute sie mir in zwei Teilen an. Erst dann konnte ich weiterlesen und verstand die Zitate und Episoden besser. Es ist wirklich ein unglaublich starker Film, der viel Stoff zur Reflexion bietet. Captain Willard erhält den Spezialauftrag den Fluss Richtung Kambodscha raufzufahren, um den abtrünnigen, verrückt gewordenen Colonel William Kurtz zu töten. Ziel des Filmes ist den Wahnsinn und die Sinnlosigkeit des Krieges zu zeigen.

Der Norwegisch Autor Johan Harstad hätte den Vietnamkrieg als Autor ganz plakativ auswalzen können, über Traumatisierung schreiben, eine Aufarbeitung angehen. Der Roman ist trotz den Titels kein Vietnamroman, der Krieg bleibt ein Randthema, das die Protagonisten in unterschiedlicher Form streift, aber nicht zentral wird. Vietnam mischt sich nur in den Soundtrack ein, und das weniger dominant, als die Doors-Songs in „Apocalypse Now“.

Entwicklungen

Ein sehr präsentes Thema ist die Schauspielerei und das Theater. Da ich weniger in diesem Milieu zuhause bin, konnte ich nicht viel damit anfangen, gestört hat es mich auch nicht, sondern ich nahm es als Teil der Handlung war. Auch an der bildenden Kunst arbeitet sich der Autor anhand der Figur der Mischa ab. Mischa wird auch als unkonventionelle Frau beschreiben. Sie genießt als Kanadierin einen ähnlichen Exotenstatus in der USA wie Max. Ihr Beziehungsverlauf wird wirklich schön beschreiben. Das Zusammenkommen, auch hier die Unsicherheit vom wesentlich jüngeren Max und dann das Auseinanderbewegen, die Suche wieder nach dem Ich im Wir, und dann eine leichte Annäherung. Das hat mir extrem gut gefallen. Das Annähern und Auseinanderleben wird auch noch in den Freundschaftsbeziehung mit Mordecai durch dekliniert.

Titelauswahl

Der Titel diese Werkes hat mich verwirrt und tut es auch noch nach der Lektüre. Aber ich kann die Schwierigkeiten das Buch mit einem treffenden Titel zu versehen nachvollziehen. Aufgrund der Themenvielfalt tue ich mich auch schwer, eine Überschrift für den Blogbeitrag darüber zu finden. Das Buch hat in seiner Komplexität das Zeug, ähnlich wie die erwähnten Filme, zu einem Lebensbuch zu werden, das man immer wieder anders lesen kann. Lebensfilm und Lebensbuch haben gemeinsam, dass sie ein gewisse Überlänge haben. Vielleicht kann man nur so eine Vielfältigkeit erreichen.

Was hätte „Jenseits von Afrika“ mir in Zeiten von Corona zu sagen? Ginge es um Isolation und Einsamkeit? Ginge es darum, das Beste auf der Situation zu machen?

Hach, es wird langsam Zeit, den Film wieder in den DVD-Player zu legen und mir meine aktuelle Botschaft zu holen!


  • Johan Harstad
  • „Max, Mischa und die Tet-Offensive“
  • Verlag: Rowohlt
  • Erscheinungstermin: 26.03.2019
  • 1248 Seiten
  • ISBN: 978-3-498-03033-9
  • übersetzt von: Ursel Allenstein
  • Deutsche Erstausgabe