Umwege auf dem Wasser

Eine Odyssee

Man sagt ja, man solle kein Buch nach seinem Umschlag beurteilen. Ich habe gegen diese Regel verstoßen und ein Buch nach seinem Cover gewählt. Seit Beginn der Coronazeit habe ich eine extreme Sehnsucht nach Wasser: nach Regentonnen, nach Pools, nach Bächen, nach Seen und natürlich nach dem Meer, das mir heuer unerreichbar scheint. Und das heutig Buch hat sehr schöne stilisierte glitzernde Wellen am Einband, auf deren Spitzen ein kleines historisches Segelboot unterwegs ist.

Und es geht um das Reisen. Etwas was man diesem Sommer nur mit Handbremse und Ungewissheit macht. Man sehnt sich nach Freiheit, man würde gerne, hat Sehnsucht, traut sich nicht, darf nicht.

Die Mendelsohns

Bei dem Reise- und Wellenbuch handelt es sich um „Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“ von Daniel Mendelsohn. Die Handlung ist schnell erzählt: der einundachtzigjährige Jay Mendelsohn nimmt an einem Seminar über die Odyssee von Homer bei seinem Sohn Daniel Mendelsohn, einem Professor für Alte Geschichte teil. Der Vater hatte als junger Mann einst die Odyssee im Original in Griechisch gelesen und wollte es nochmal tun. Der Sohn erlaubt die Teilnahme des Vaters am Seminar unter den etwas über zwanzigjährigen Studenten. Sie besprechen das Buch gemeinsam. Bei jedem Termin nimmt sich die Seminargruppe einen der Gesänge der Odyssee vor. Diese Strukturierung bestimmt auch das Buch. Als Leser bekommt man Ausschnitte der Odyssee zu lesen, erhält literarische Erklärungen und erfährt, was Professor Mendelsohn dazu meint, aber auch sein Vater und die andern Schüler. Gemischt werden diese Erzählungen mit Geschichten aus dem Leben der beiden Mendelsohns.

Das Original

Das Gedicht von Homer berichtet über die Heimfahrt des gewitzten Kriegers Odysseus vom Trojanischen Krieg. Er wird an verschiedenen Stationen aufgehalten, wo ihm ein neues Leben angeboten wird, doch er sehnt sich nach seiner Heimat Ithaka. Mit mehrmaliger und tatkräftiger Unterstützung der Göttin Athene kann er wieder nach Hause kommen, wo seine Frau treu auf ihn gewartet hat. Seinen Sohn Telemachos, der in der Zwischenzeit von einem Kleinkind zu einem jungen Mann gewachsen ist, blüht während der Suche nach seinem Vater auf und kann sich so aus seinem Schatten begeben.

Annäherungen

Mit einem Happy End endet also die Buchvorlage. Daniel Mendelsohn wusste vieles nicht von seinem introvertierten Vater, der Mathematiker gewesen war. Er hatte ihn als Vater erlebt, der hohe Ansprüche an sich selbst und seine Kinder stellte. Sonst wirkte er sehr verschlossen. Durch die gemeinsam Lektürebesprechung vor jungem Publikum lernt Daniel in anders kennen. Manche Charakterzüge erklären sich, mache Rätsel lösen sich, manche Dinge schauen in der Rückschau nun anders aus. Und auf der anschließenden gemeinsamen Kreuzfahrt auf den Spuren des Odysseus erlebt Daniel Jay gar leutselig und charmant.

Mir hat das Buch das Herz erwärmt. Die Liebe des Sohnes zum Vater ist das ganze Buch spürbar. Auch über die Liebe zum Sohn erfahren wir einiges. Eine These des Buches ist, dass ein Vater alles über seinen Sohn weiß, weil er ihn sein ganzes Leben lang kennt, ein Sohn kann niemals alles über seinen Vater wissen kann, denn er hatte schon immer ein Leben vor dem Sohn. Es geht also um diese Annäherung der beiden Mendelsohns, sowie Telemachos, Odysseus Sohn sich zuerst über Geschichten an den Vater annähern muss, bevor er ihn wirklich kennen lernt.

Alte Geschichten

Ohne das Buch wäre ich nie auf die Idee gekommen die Odyssee zu lesen, sowie ich es jetzt gerade mache. Ich dachte immer, für die Lektüre eines solchen historischen Werkes brauche man fundiertes Vorwissen und dass diese alten Schinken einem heute nichts mehr geben können. Doch nach Lektüre des Mendelsohnschen Odysseebuch, das ja den Seminarstoff sehr unterhaltsam integriert hat, fällt einem das Verstehen leicht. Und es wird einem klar, dass jeder etwas anderes in der Odyssee liest.

Bei mir geht es nicht um eine Vater-Sohn-Geschichte. Auch ist mir Odysseus nicht unbedingt sympathisch. Jay Mendelsohn wirft den gefeierten Krieger immer vor, zu viel zu heulen und nur mithilfe der Götter siegreich zu sein. Für ihn ist er kein Held.

Ich lese eine Geschichte über eine Göttin, die sich helfend in verschieden Leben einmischen. Mein Favorit ist Athene, ohne deren Hilfe Odysseus für immer gestrandet wäre und die ihm immer wieder aus der Patsche hilft. Sie ist wie eine Mama, die sich um ihre Buben sorgt, ihnen Ratschläge gibt und Hindernisse aus dem Weg räumt, und es ihnen leicht macht, sich zu profilieren.

Aus dem Leben erzählen

Ein Aspekt hat mir auch noch gefallen an diesem Buch: wenn wir uns zusammensetzen und über Geschichten aus Büchern diskutieren, dann sagen wir auch etwas über unser Leben. Die vorgegeben Geschichten geben uns Anhaltspunkte, um über unser Leben nachzudenken. Das was wir im Lesekreis tun, das was die Mendelssohns im Seminar getan haben, ist anhand der Vorgaben einer Geschichte sich selbst zu erzählen, sich selbst zu erklären.

Die glitzernden Wellen des Bucheinbandes tragen keine Handlung, haben mir aber eine vergnügliche Fahrt in ein mir unbekanntes Leseland der griechischen Klassiker ermöglicht. Möge das echte Griechenland bald wieder am Horizont erscheinen.


Daniel Mendelsohn

„Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“

Siedler Verlag

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Originaltitel: An Odyssey. A Father, a Son and an Epic

Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 13,5 x 21,5 cm

ISBN: 978-3-8275-0063-2

Erschienen am 04. März 2019

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