Der schmalen Roman „Reibungsverluste“ von Mascha Dabić, der eher unspektakulär einen Tag im Leben einer Übersetzerin erzählt, hat mich nach dem ersten Lesen so beschäftigt, dass ich ihn ein zweites Mal gelesen habe. Und das kommt selten vor.
Nora ist Übersetzerin und Dolmetscherin aus dem Russischen. Wir Leserinnen dürfen sie einen Tag lang begleiten. Der Roman beginnt mit dem Aufstehen in der Früh und endet mit dem Schlafengehen von Nora. Dazwischen ist Alltag. Nora lebt alleine, sie muss sich nur um ihre Pflanzen kümmern. Sie hat eine zeitlang in St. Petersburg gearbeitet und gelebt. Dort hatte sie einen russischen Freund, doch die Beziehung brach von beiden Seiten entzwei und Nora ist nun wieder in Wien und noch mit der Aufarbeitung beschäftigt.
Nora arbeitet für verschiedenen Institutionen. An dem Tag, an dem wir sie begleiten, ist sie als Dolmetscherin für die Psychologin Roswitha tätig. Die Klienten sind Flüchtlinge, die zu den Sitzungen kommen, um mit dem Alltag im neuen Land zurecht zukommen, Traumata aufzuarbeiten, oder sich dadurch bessere Chancen für ihr Asylverfahren erhoffen. Die Geschichten, die wir hören über Krieg, Gewalt, Flucht, Diskriminierung, Desorientierung tun beim Lesen weh. Sie sind aber stimmig in die Erzählung über Noras Leben, ihren Alltag und auch ihre Überlegungen zur Sprache gesetzt. Was kann man erzählen? Worüber kann man sprechen? Wo kann die eine Sprache nicht sagen, was in der anderen selbstverständlich ist. Beim Übersetzen treten zwangsläufig Reibungsverluste auf. Darüber denkt Nora nach.
Das Buch ist sehr gut komponiert. Es ist kein Aufreger, es schreit nicht laut, es geht in die Tiefe. Es bindet das von uns entfernte Thema Flucht in einen österreichischen Alltag ein, zeigt Facetten und Widersprüche, macht nachdenklich. Die Geschichte zeigt aber auch Nora als junge Frau, die schon vom Leben verletzt wurde, aber ihren Platz noch sucht.
Gut gefällt mir auch die Herausarbeitung der Sprache als Kulturträger. Die Autorin Mascha Dabić weiß, wovon sie spricht, gebürtig in Sarajevo, lebt sie heute in Wien. Auch sie verdient ihr Geld als Dolmetscherin und Übersetzerin.
Im Nachhinein finde ich witzig, dass auch Nora in einen dreimonatigen Lesestreik getreten ist. Das könnte eine unbewusste Inspiration für mein Lesefasten gewesen sein, denn ich hatte das Buch kurz davor zum ersten Mal gelesen. Bei Nora kann ich verstehen, dass sie am Abend, nach so vielen echten Geschichten, die sie tagsüber aufnehmen und wiedergeben muss, abends nicht noch mehr Geschichten verträgt. An dem Abend des Romantages bricht sie ihren Lesestreik, verrät aber leider nicht, mit welchem Buch. „Reibungsverluste“ würde sich dazu eignen: gute, anspruchsvolle Literatur, leicht zu lesen, viel zu denken.
Mascha Dabić
„Reibungsverluste“
Roman
2. Auflage
edition atelier
152 Seiten
12,5 x 20,5 cm
Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
18 Euro
ISBN 978-3-903005-26-6
Das Streikbrecherbuch war „Ein Kirschbaum im Winter“ von Yasunari Kawabata.
liebe Grüße!
Liebe Mascha Dabic,
Danke für die Aufklärung! Das muss ich überlesen haben, es kommt aber natürlich sofort auf meine Leseliste ;-). LG, Susanne
Ja, das Buch von Kawabata ist wirklich sehr schön! Kann ich nur empfehlen!
Ganz liebe Grüße und alles Gute weiterhin,
m.