Indien, das sind die Menschen

Ich habe „Indien – Land des Aufruhrs“ vom Nobelpreisträger V.S.Naipaul gelesen und diese umfangreiche Reportage ist fast 30 Jahre nach dem Erscheinen noch immer absolut lesenswert für Europäer, die das vielfältige Land besser verstehen wollen.

V.S.Naipaul Indien -Land des Aufruhrs, Reportage

V.S.Naipaul

Um Indien als Nicht-Inder einigermaßen begreifen zu können, muss selbst ein Mensch mit indischen Vorfahren anscheinend drei dicke Bücher über das Land schreiben. Der Nobelpreisträger V.S. Naipaul ist in Trinidad aufgewachsen, seine Großeltern stammen aus Indien. Er hat sich auf drei große Indienreisen begeben, die jeweils ein Jahr dauerten. Daraus entstanden drei Bücher:

  • An Area of Darkness (1964) (Land der Finsternis – Fremde Heimat Indien)
  • India: A Wounded Civilization (1977) (Indien – eine verwundetet Kultur)
  • India: A Million Mutinies Now (1990) (Indien – Land des Aufruhrs)

Indien – Land des Aufruhrs

Der Untertitel des Buches,d as ich gelesen habe „Land des Aufruhrs“ bezieht sich auf die ständig stattfindenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen in Indien. Jede Religion, jede ehemalige Kaste, jede Volksgruppe ficht Kämpfe aus, manche in Form von passiven Widerstand, bei manchen gibt es Tote. Von diesen Umwälzungen berichtet V.S.Naipaul indem er sich die Menschen dahinter ansieht. Er sucht Interviewpartner und lässt sich erzählen. Meist sprechen sie über die Familiengeschichte, welche Umwälzungen es seit der Zeit der Großväter bereits gegeben hat, was ihre Väter anders machen mussten und kommen dann auf die aktuellen Probleme des Interviewpartners. Der Autor nimmt sich Zeit den verschiedensten Menschen tagelang zuzuhören. Naipaul befragt arme Menschen, aber auch im reiche, Führungspersönlichkeiten, und einfache Tagelöhner. Er wählt Menschen mit unterschiedlichen Religion aus, um auch mehrere Blickwinkel auf religiöse Konflikte, wie zum Beispiel zwischen Moslems und Hindus zu werfen. Für den Autor ist Indien ein großes, unbegreifliches Ganzes, das er zu erforschen versucht. Die dort lebenden Menschen sehen eher die Unterschiede zwischen ihnen und ihren Mitmenschen. Mit diesem Fokus auf viele einzelne Menschen entsteht ein sehr subjektives, aber vielfältiges Bild. Naipaul sagt im Vorwort, er habe erkannt, dass Indien die Menschen sind, die in diesem großen Land leben.

Reiseroute durch Indien

Naipaul beginnt seine Reise in Bombay, wo er sich mit den mafiösen Strukturen dort beschäftigt, aber auch einen Blick in die Filmbranche wirft. Dann geht er in den Süden, erforscht die lokalen politischen Bewegungen in Tamil Nadu , wo die Kasten und Religionen einander feindlich gesinnt sind. Später ist Naipaul entsetzt über den Verfall Kalkuttas. Von dort aus streift er auch den Naxalitenaufstand (Romanempfehlungen dazu: „Das Tiefland“ von Jhumpa Lahiri und „In anderen Herzen“ von Neel Mukherjee). Er gibt Einblicke in die Kultur der Brahmanen und der Sikhs. Den Abschluss macht Kaschmir, wo er 1960 bereits Station gemacht hat, und er zeigt die Veränderung durch den Tourismus dort auf. Immer wieder streift sein Blick auch die Landschaft und die Baukunst Indiens.

Die Reportage ist ein dicker Wälzer von 665 Seiten, der kaum langweilig wird, weil die Geschichten der Menschen einfach fesseln. Es ist nach Geographie in Kapitel geteilt, aber zwischen den einzelnen Personen gibt es keine Abteilung, sondern immer eine elegante Überleitung, in der oft auch der Autor seine Eindrücke preisgibt. V.S. Naipaul hat es sicher leichter als ein Europäer in die Kultur einzutauchen, vieles ist ihm aber auch fremd, aber er dürfte das Vertrauen seiner Interviewten einfach herstellen zu können, weil ihm alleine die Optik und die religiösen Wurzeln ein wenig einbetten. Historische Einbettung von Ereignissen, werden vom Autor geboten, allerdings ebenfalls auf ein subjektive Weise. Manchmal habe ich mir beim Lesen einen Glossar gewünscht, der nicht nur einzelne Wörter erklärt sondern auch historische Fakten auflistet.

Der Großteil der Interviewten sind zwar Männer, aber auch einige Frauen werden befragt. Ein Kapitel beschäftigt sich auch mit der Welt der indischen Frauenzeitschriften. Am meisten hat mich Mallika (S146) beeindruckt, die Frau eines politischen Führers. Naipaul wollte eigentlich ihren Mann befragen, hatte aber immer wieder Zeit mit seiner Frau zu sprechen. Was die gebildete Mallika ungewöhnlich macht, ist dass sie versucht hat die Gewalttätigkeiten ihres Mannes literarisch und damit öffentlich zu verarbeiten und er nicht dagegen hatte.

Jetzt habe ich Dir Lust auf das Buch gemacht, und muss Dir nun sagen, ich bin nicht sicher, ob es in den Buchhandlungen noch erhältlich ist. Bei dem Verlag meines Exemplars scheint es nicht einmal mehr auf, auf Amazon (bitte dort, wenn vermeidbar, nicht kaufen) ist es gebraucht erhältlich. Frage doch einfach deinen lokalen Buchhändler. „Land der Finsternis“ und „Indien – Land des Aufruhrs“ sind in der Bücherei Wien entlehnbar. Inhaltlich hat das Buch kein Verfallsdatum, denn es kann zu jedem Zeitpunkt als subjektives Abbild der Zeit der Entstehung gelesen werden. Würde der Autor die gleichen Stationen heute bereisen, wäre das Bild das er wiedergeben würde wieder ein anderes. Dadurch behält es seine Gültigkeit.


V.S. Naipaul
„Indien – Land des Aufruhrs“
Claasen Verlag, 2006
ISBN-13:978-3-546-00371-1
ISBN-10:3-546-00371-3
665 Seiten