Südstaatenmädels

Gefühlt haben wir heuer schon seit zwei Monaten Sommer, doch diese Woche ist erst der offizielle Sommerbeginn. Heute empfehle ich zwei Südstaatenromane. „Wer die Nachtigall stört…“ von Harper Lee und „Der kleine Freund“ von Donna Tartt können unsere Gedanken an schwülen Sommerabende erfrischen.

"Wer die Nachtigall stört..." und "Der kleine Freund"

Wer an Südstaatenromane denkt, hat sofort Scarlett O’Hara aus „Vom Winde verweht“ präsent. Eine schöne, elegante Lady, die weiß was sie will. Ich stelle heute zwei Romane vor, die ebenfalls in den Südstaaten der USA spielen, aber schon etwas später. Die Sklaven sind freie Menschen, sie arbeiten als bezahlte Hausangestellte. Der Reichtum der Weißen ist dadurch zurückgegangen. Die Ladys um die es in den vorgestellten Romanen geht, sind noch im Wachstum und wollen sich so gar nicht den Geschlechterklischees beugen. Auch sie wissen, was sie wollen. Scout aus „Wer die Nachtigall stört…“ von Harper Lee und Harriet aus „Ein kleiner Freund“ von Donna Tartt könnten Schwestern sein.

Wer die Nachtigall stört…

„To Kill a Mockingbird“ ist in Amerika eine Pflichtlektüre jedes Highschool-Schülers. Ich habe mich schon seit längerem gefragt, was das denn für ein Roman sein soll. Aus dem Titel konnte ich mir keinen Reim machen. Und auch sonst musste er so sein, dass ein Halbwüchsiger ihn versteht, aber auch etwas dabei lernt. Der Roman wurde 1960 zum ersten mal veröffentlicht, 1961 erhielt die Autorin Harper Lee dafür den Pulitzerpreis. Er war lange Zeit der einzige Roman den die mittlerweile über 90-jährige Harper Lee veröffentlicht hatte. Ein One-Hit-Wonder. Dadurch dass erst vor wenigen Jahren der Vorläuferroman „Gehe hin, stelle einen Wächter“ herausgebracht wurde, kam er wieder ins Gespräch.

Die zu Beginn sechsjährige Scout, die eigentlich Jean Louise heißt, lebt mit ihrem ein paar Jahre älteren Bruder Jem und ihrem Vater Atticus in dem kleinen fiktiven Ort Maycomb in Alabama. Die Mutter ist verstorben, das Regiment im Haushalt führt die dunkelhäutige Angestellte Cal. Die Geschichte beginnt damit, dass ein Paar Häuser weiter der kleine Dill zu Besuch kommt und sich mit den beiden Kindern anfreundet. Gemeinsam mit ihm haben sie das Interesse Boo Radley aus dem Haus oder zumindest zu Gesicht zu bekommen. Boo Radley wurde seit er als Teenager in schlechte Gesellschaft geraten war, von seinen Eltern so beaufsichtigt, dass er niemals außer Haus kam. Als Erwachsener soll er seinen Vater eine Schere ins Bein gestoßen haben. Seither bleiben die Fensterläden im Haus der Radleys zu und auch die Eltern halten sich von gesellschaftlichen Leben fern.

Die Versuche der Kinder Kontakt aufzunehmen schlagen zuerst fehl, erst später finden sie in einem Versteck am Schulweg kleine Geschenke und sie glaubten, dass sie ihnen Boo da hingelegt hat.

Der Vater Atticus hat einstweilen andere Sorgen. Als Anwalt muss den Schwarzen Tom Robinson verteidigen, der beschuldigt wird, ein weißes Mädchen vergewaltigt zu haben. Das Mädchen ist die neunzehnjährige Mayella, sie stammt aus einer unterprivilegierten Familie, die nur mehr aus einem Vater und sehr vielen schmutzigen Kindern besteht. Scout, Jem und Dill verfolgen den Prozess, in dem der Schwarzen von Beginn an keine Chance hat. Die Kinder sind niedergeschlagen und enttäuscht. Tom kommt in Haft. Aber auch der Vater von Mayella ist nach dem Prozess wütend, weil er, obwohl er den im Prozess gewonnen hat, sein Gesicht verloren hat. Er kündigt Rache an, die auch vor Kindern nicht Halt macht.

Der kleine Freund

Donna Tartt muss als Amerikanerin die Romanfigur Scout gekannt haben. Die Hauptfigur ihres Romans „Der kleine Freund“ ist Harriet, die der kleinen Scout in ihrer Unabhängigkeit und ihrer wenig mädchenhaften Art sehr ähnlich ist. Aber Harriet hat aber auch etwas leicht bösartiges und unheimliches an sich.

Harriet wächst sowie Scout in einer kleinen Südstaatenstadt auf. Im Sommer, als sie zwölf Jahre alt ist, beschließt sie den Mord an ihren Bruder aufzuklären und zu rächen. Robin wurde als er neun Jahre alt war, erhängt im eigenen Garten gefunden, während seine Schwestern sich ebenfalls im Garten aufhielten und das Haus voller Tanten war. Harriet war damals noch ein Baby gewesen, kennt also die Welt nur mit dem abwesenden Robin. Ihre Mutter ist seither unter Medikamenten immer geistig ein wenig abwesend, ihr Vater ist, wie es offiziell heißt, aus beruflichen Gründen örtlich abwesend. Emotionale Unterstützung und Fürsorge bekommt Harriett von Ida, der schwarzen Haushälterin, ihrer strengen Großmutter Edith und deren drei Schwestern. Sie ist also in einem stabilen Frauennetzwerk gut aufgehoben.

Ida äußert Harriet gegenüber den Verdacht, dass Danny Ratliff Robin ermordet habe. Danny war gleich alt wie Robin gewesen, sie gingen zusammen in eine Klasse, aber er gehört zu einer ortsansässigen Familie von Einbrechern und Drogenproduzenten. Harriets Freund Hely steht ihr bei dem Vorhaben Rache zu üben zur Seite. Und irgendwie gerät alles durcheinander. Das familiäre Netzwerk beginnt zu bröckeln, Harriet kommt ins Visier der Gangster, nichts läuft nach Plan.

Die Gesellschaft in den Romanen

Die beiden mutterlosen Mädchen Scout und Harriet benehmen sich ganz und gar nicht damenhaft. Im Gegenteil, sie sind oft barfuss unterwegs, und beweisen in den verschiedensten Situationen Mut und Tatkraft. Sie eignen sich also hervorragend als Identifikationsfiguren für den Leser. Die Erzähler bleiben meist auch an den Mädchen dicht dran.

„Wer die Nachtigall stört…“ schafft es nicht nur inhaltlich extrem gut, sondern auch sprachlich kindliche Logik von Scout aufzugreifen und abzubilden. Beim Lesen kam mir immer wieder ein Schmunzeln aufs Gesicht. Scout ist die jüngere und hat etwas ein wenig Naives an sich. Harriets Geschichte ist härter. Ihr Charakter ist weniger herzlich, sie wird als intelligent, bibelfest, mutig und streitlustig beschrieben.

Beide Romane greifen das Thema auf Schwarze gegen die weiße Unterschicht. Schwarze Frauen werden als Haushälterinnen angestellt, sie werden fürs Kochen und Putzen bezahlt, übernehmen auch im Falle der beiden Mädchen massiv Erziehungsarbeiten und sorgen für emotionale Stabilität im Haus.

Der Roman liegt zeitlich zwischen der Sklaverei wie in Colson Whiteheads
„Underground Railroad“ und dem heutigen Zustand der Schwarzen in Amerika wie in Ta-Nehisi Coates „Zwischen mir und der Welt“.

Man könnte die damalige Südstaatengesellschaft in drei Schichten einteilen. Beide Mädchen kommen aus angesehenen, aber im Gegensatz zu den Glanzzeiten etwas verarmten Familien. Hier ist Stolz, Bildung und auch noch ein wenig Geld zu finden. Dann gibt es die unterprivilegierten Weißen, die trinken, von Tagesjobs oder kleineren Verbrechen leben. Sie schauen noch weiter auf die Schwarzen hinab, die schwer schuften um ihre Lebensbedingung zu verbessern, aber strukturell und real immer noch nicht als gleichwertig angesehen werden. Die schwarze Haushälterin Ida muss ihren eigenen Trinkbecher mitbringen, damit sie nicht aus den Gläsern der Familie trinkt. Und der dunkelhäutige Tom Robins, der die Vergewaltigung nicht begangen hatte, und nur einem verwahrlosten Mädchen helfen wollte, hatte von dem Moment an keine Chance, als das Mädchen begann laut zu schreien. Selbst das Gericht, selbst der liberale Atticus konnte ihm aus dem Schlamassel nicht wieder herausholen. Diese Zuspitzung und der Hass der einen Klasse auf die anderen ist vielleicht in den beiden Werken der aktuelles Bezug zur Gegenwart. Auch Vorurteile zwischen allen Schichten spielen eine große Rolle.

Bei Harper Lee wird die unterprivilegierte Familie nur skizziert und in Andeutungen beschreiben, Donna Tartt geht auch in das Leben der Ratliffs. Sie zeigt es nicht nur Schwarz/Weiss, sie beschreibt auch deren Hoffnungen und Träume. Ich habe anfangs einen Widerstand gespürt, ich wollte das nicht lesen, ich wollte weiter auf Harrites Seite stehen, auf der Seite der Guten. Und plötzlich findet man den einen oder anderen der Ratliffs sympathisch. Das macht eine Qualität der Romans aus: die Vielschichtigkeit der Figuren. Er ist dafür nicht ganz so spannend wie Donna Tartts folgender Roman „Der Distelfink“, obwohl man den dicken Wälzer auch nicht gerne weglegt, weil Harriet etliche Abenteuer initiiert, wo man als Leser nur hoffen kann, dass sie gut ausgehen.

Beide Mädchen sehen die Ungerechtigkeiten, versuchen auch dagegen anzugehen. Sie wollen etwas. Sie tun. Sie wollen etwas ändern. Diese Hoffnung und den kindlichen Blick für Ungerechtigkeiten geben uns die beiden aufgeweckten, unangepassten Mädchen mit. Wir sollten ihn uns auch bewahren.

Beide Romane sind eher feste Wälzer und eignen sich mit der stickigen Südstaatenschwüle, den sirrenden Insekten und der kindlichen Einsichten sehr gut als Urlaubslektüre. Ach ja: die Nachtigall soll man nicht stören (oder im Englischen Original töten), weil sie schön singt, aber niemanden etwas tut, so weist Atticus seine Kinder an.


Harper Lee
„Wer die Nachtigall stört…“
Verlag: rororo rotfuchs
Erscheinungstermin: 15.05.2018
448 Seiten
10€ (D)
ISBN:978-3-499-21825-5
übersetzt von: Claire Malignon

Donna Tartt
„Der kleine Freund“
Roman
Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt
Originaltitel: The Little Friend
Originalverlag: Alfred A. Knopf
Taschenbuch, Klappenbroschur, 784 Seiten, 13,5 x 20,0 cm
ISBN: 978-3-442-48732-5
€ 13,00 [D] | € 13,40 [A] | CHF 18,90* (* empfohlener Verkaufspreis)
Verlag: Goldmann
Erschienen:16.10.2017