Lesegefühl und Lebensgefühl

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex

Der Wiedereinstieg ins Lesen nach meinem Lesefasten war holprig. Am Karsamstag, dem Tag an dem ich mein Bücherfasten feierlich beenden wollte, war ich todmüde. Wir hatten ein Zimmer übersiedelt, waren dann noch in die Steiermark gefahren, hatten in ein kleines, nettes Osterfeuer gestarrt und dann sollte es losgehen. Nur war ich so richtig müde, körperlich und auch geistig. Die Lautstärke des Fernsehers, der neben mir lief, war auf meinen Schwiegervater eingestellt. Ich las drei Seiten ohne Lust und Konzentration und ging schlafen.

Auch am nächsten Tag passte das Lesen nicht zum Fernseher und zur Müdigkeit. Ich hatte schon Angst, dass ich mir meine allerliebste Beschäftigung zerstört hatte. Erst zuhause in meinem gemütlichen Bettchen hatte ich die Ruhe, den Genuss am Lesen wieder zu finden.
In der ersten Woche hatte ich es überhaupt nicht eilig, abends dem Lesen zu beginnen. Ich las ein paar Seiten, einen Abend hörte ich nur Musik, ich häkelte. Die Dosis, die ich brauchte, war gering. Ich war da noch immer bei „Die Geschichte der Bienen“.
Und in der U-Bahn musste ich mich sogar zum Lesen zwingen. Denn für den Lesekreis stand „Hagard“ von Lukas Bärfuss auf dem Programm und die Zeit drängte. Das Buch war echt eine Qual. Die Erzählsituation hat mich extrem geärgert, der Erzähler genervt, die Geschichte selbst fand ich unglaubwürdig und wenn es nicht so dünn gewesen wäre und wenn es nicht für den Lesekreis gewesen wäre, hätte ich einfach nicht mehr weitergelesen. Ein Glück, dass auch schlechten Bücher im Lesekreis sehr befriedigenden Diskussionen auslösen und uns einen schönen, unterhaltsamen Abend bereiten.

Und dann kam „Das Leben des Vernon Subutex“ von Virginie Despendes. Ich ich hatte zu meiner Droge zurückgefunden. Man sah mich wieder mit einem Buch unter dem Arm geklemmt zwischen zwei U-Bahnlinien umsteigen und auf Rolltreppen lesen.
Der Roman skizziert unsere Zeit, unsere Lebensumstände brilliant. Die Geschichte begleitet den stadtbekannten, beliebten Plattenhändler Vernon Subutex bei seinem finanziellen Niedergang. Als sein Freund und Mietenbezahler, der erfolgreiche Schlagersänger Alex an einer Überdosis stirbt, fliegt Vernon aus seiner Wohnung und kommt fortan bei verschiedenen Freunden unter. Jedes Kapitel wird von einer anderen Figur, die Vernon auf seinem Weg begleitet, erzählt. Drogen, Sex, Musik bilden den Hintergrund für Menschen in der Mitte ihres Lebens. Manche sind mit Empathie ausgestattet, bei anderen dominiert die Faulheit oder Resignation, manche sind wehmütig, es gibt Menschen, die kein Glück im Leben haben und Menschen, die alles haben, aber auch nicht glücklich sind. Neben dem Niedergang von Vernon, wird Alex zum zweiten Fixierpunkt der Geschichte, die meisten der handelnden Figuren haben ihn gekannt. Auch ihm, sowie Vernon konnte keiner helfen.

Das Buch ist meisterhaft geschrieben, es ist nicht langweilig, nicht vorhersehbar. Er bleibt immer locker im Ton, obwohl die großen Themen unserer Gegenwart Rechtsextremismus, die auseinandergehende Armutsschere, Umgang mit Außenseitern und Gewalt dastehen. Diese großen Brocken werden aber von der Autorin konkretisiert und in die Geschichte über einzelne Menschen eingeflochten, Menschen wie du und ich. (Naja, in meinem Leben kommen weniger Drogen vor, und nachdem ich keine Französin bin, auch weniger Sex).
Das Buch liegt am Puls unserer Gegenwart und ich es kann später, wenn wir alle wissen, wie es mit unserer Welt weitergeht, zur Charakterisierung unserer gesellschaftlichen Umbruchphase hergenommen werden. Das Buch wird Bestand haben, weil es unsere heutige Lebensunsicherheit auf gekonnte Weise festhält.

Nun bin ich angefixt, und brauche schnellstmöglichst den zweiten Band von Vernon Subutex, obwohl ich für die Lesegruppe in 3 Wochen „Augustus“ von John Williams gelesen haben muss. Zudem lese ich, weil es mich beruflich betrifft, noch „ Der tiefe Riss – wie Politik und Wirtschaft Eltern und Kinderlose gegeneinander ausspielen“ von den beiden hier schon bekannten Journalistinnen Susanne Garsoffky und Britta Sembach.
Das heißt, ich werde wieder freudig und mit Volldampf lesen.

 


Virginie Despentes
„Das Leben des Vernon Subutex 1“
Roman
Kiepenheuer&Witsch
Titel der Originalausgabe: Vernon Subutex
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
ISBN: 978-3-462-04882-7
Erschienen am: 17.08.2017
400 Seiten, gebunden mit SU
Deutschland 22,00 €
Österreich 22,70 €