„Das Tiefland“ von Jhumpa Lahiri

Ein indischer Roman über zwei Brüder fürs Herz

Jhumpa Lahiri: The Lowland

Ein wenig außerhalb von Kalkutta gab es zwei Teiche und dahinter ein Tiefland. In der Nachbarschaft gab es einige einfache Hütten, aber auch den vornehmen Tolly Club. Nach dem Monsunregenfällen gab es keine Trennung mehr zwischen den Teichen und das Tiefland war geflutet. Zwei Brüder lebten in dieser Nachbarschaft, der lebendige Udayan und der etwas ruhiger Subhash. Der eine war ein Draufgänger, der andere der Stabile. Nachdem sein Schicksal den einen ereilt, muss der zweite einen Teil des Lebens des anderen führen. Es gibt keine Trennung mehr.

Beide Brüder sind technisch begabt und entscheiden sich zur Freude ihres Vaters für ein Studium. Der emotionalere Udayan schließt sich während der Studienzeit der marxistischen Gruppierung der Naxaliten an. Subhash studiert ernsthaft und schafft es für sein Doktorrat einen Studienplatz in den USA zu bekommen. In einem Brief teilt Udayan Subhash mit, dass er heiraten wird, eine strebsame, belesene Studentin, Gauri. Subhash ist ein wenig traurig darüber, hofft aber, dass Udayan nun als verheirateter Mann seine politischen Aktivitäten aufgibt. Ein wenig später kommt ein Brief der Eltern, indem steht, dass Udayan tot sei. Er wurde verhaftet und von der Polizei in den Rücken geschossen.

Subhash reist nach Hause nach Kalkutta und lernt dort auch die zurückgezogene und von seinen Eltern niemals akzeptierte Gauri kennen, die ganz nach der Tradition bei seinen Eltern lebt. Sie erwartet ein Kind und ist nicht glücklich darüber, weil sie und Udayan eigentlich mit der Familienplanung warten wollten.

Subhash nimmt sie zur Frau, um sie aus der giftigen Umgebung seiner Familie zu lösen und bringt sie in die USA. Die beiden heiraten und Subhash wird als Vater der kleinen Bela gesehen. Gauri verbringt viel Zeit alleine mit dem Kind und sehnt sich danach wieder intellektuell weiterarbeiten zu können. Subhash verdient das Geld und ist viel außer Haus. Gauri beginnt das Mädchen zu vernachlässigen, sie kann sich emotional nicht auf das Kind einlassen. Als Subhash mit Bela nach Indien fährt, um die Großeltern zu besuchen, nutzt Gauri die Gelegenheit, um auszuziehen und aus dem Leben der beiden zu verschwinden.

Das hinterlässt Spuren. Die Tochter Bela ist ständig auf Achse, nimmt Gelegenheitsjobs an und mag sich nicht binden. Erst spät findet sie einen Mann und wird selbst Mutter. Aber die Taten der Eltern bestimmen das Leben der Kinder.

Ich muss gestehen, ich habe beim Lesen dieses Buches oft geweint. Die Autorin hat eine große Sensibilität, sie baut auf gute Menschenkenntnis und man merkt dem Text an, dass er von einer Mutter kommt, wie bei diesem Zitat über Bela als kleines hilfloses Baby:

But now Gauri was aware of how the slightest oversight on her part could cause Bela to be destroyed.

(Ich habe das Buch in Englisch gelesen, was sprachlich relativ einfach zu verstehen war.)

Was bleibt vom Leben? Von Udayan bleiben Fußabdrücke vor dem Haus, die er als ungestümer Junge im Beton hinterlassen hat. Subhash und Gauris Abdrücke am Strand an der Amerikanischen Küste werden sogleich vom Meer weggewaschen.

Was von Udayan noch bleibt ist, ein Gedenkstein, den seiner Kameraden im Tiefland, wo er sich vor der Polizei versteckt gehalten hat, aufgestellt haben. Seine Mutter bringt täglich Blumen hin. Seine Aufgabe bei den Naxaliten war es, einen Polizisten auszuspionieren, wobei auch Gauri half und ihn zu töten. War das richtig, fragte sich Gauri später. War es das wert, ihr Leben und das Belas so schwer zu beeinträchtigen? Schlimmer wäre nur noch der geplante Anschlag auf den Tolly Club gewesen.

Die Geschichte der Naxaliten steht hier weniger im Vordergrund als in „In anderen Herzen“. Sie wird auch nicht mit dieser Brutalität und Härte geschildert. Hier wird auf ein Einzelschicksal fokussiert und auf die Auswirkungen auf den Rest der Familie.

Die Autorin Jhumpa Lahiri wurde als Tochter indischer Eltern in England geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Brooklyn. Sie versteht ihr Handwerk ausgezeichnet, da kann man gar nicht meckern. Das Buch war auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2013 und den Nation Book Award 2013. Der Roman eignet sich hervorragend als Urlaubslektüre mit Tiefgang. Mich wundert, dass ich nicht früher auf diese tolle Autorin, die 2000 den Pulitzerpreis bekommen hat, gestoßen bin.

In dem Lesekreis, an dem ich teilnehme, wurde das Buch vorgeschlagen. Leider habe ich den Diskussionsabend wegen einer Darmgrippe verpasst. Es hätte mich interessiert, um welches Thema herum sich die Diskussion entwickelt hat. Denn Themen bietet das Buch unendlich viele: das historische Indien, der derzeitige Indien, die Ungleichheiten in Indien, Kommunismus in Indien, Revolution, politisches Engagement und seine Mittel, gesellschaftliche Konventionen, Feminismus, Rollenbilder in Familien, Regretting motherhood, so kann es weitergehen. Ein reiches Buch!

Ein Satz hat mich besonders inspiriert, weil er mir eine Idee gegeben hat, wie ein wunderbarer Tod aussehen könnte.

Er kommt in einer Beschreibung von Gauris Großvater vor:

He was her Grandfather, who’d been a professor at the Sanskrit College, who’d died with a book on his chest, who’d inspired her to study what she did.

So schön: sterben mit einem Buch auf der Brust!


Jhumpa Lahiri
„Das Tiefland“
rororo Verlag
Erscheinungstermin:18.12.2015
528 Seiten
ISBN: 978-3-499-24840-5
übersetzt von: Gertraude Krueger
Taschenbuch: 10,99 €