Ich wurde in Indien immer gefragt, ob meine Schwester und mein Bruder älter oder jünger als ich wären und wusste bis vor Kurzem nicht, was der Hintergrund dieser Frage war. Nun weiß ich es. Nein, ich war nicht in Indien, das wird noch ein paar Jahre dauern, bin meine Kinder groß genug sind.
Ich habe gelesen. Zwei Bücher haben mir diesen Winter das bunte Indien vermittelt. Das erste bot mir visuelle Erlebnisse, das zweite einen Blick hinter die Kulissen.
Life with Love
Das erste Buch ist der Bildband „Life with Love“ von der jungen ungarischen Fotografin Esther Horvath*. Es zeigt Menschen bei alltäglichen Verrichtungen entweder in Schwarz-Weiss oder in Farbe. Neben den Bildern befinden sich inspirierende Zitate indischer Persönlichkeiten. Diese kann man entweder auf Englisch oder Deutsch lesen und sie passen inhaltlich immer zum beigestellten Foto.
Hier kann ich Indien fast zwischen den Seiten riechen. Das Indien, das ich kenne, das der Kinder in Schuluniformen, der Straßenhändler, des unruhigen Verkehrs, des Mülls, der verfallenen Häuser. Ich kann sehen wie sie leben, wie sie arbeiten, wie sie versuchen durchzukommen. Die Zustände können abstoßend wirken, die abgebildeten Menschen mit ihrem direktem Blick und ihrer Freude, ihrer Warmherzigkeit, tun das sicher nicht. Es sind keine Hochglanzfotos der Schönen und Reichen, der Denkmäler und Heiligtümer, sondern hier wird ein sehr ehrlicher, aber auch liebevoller Blick auf den einfachen indischen Alltag gerichtet. „Life with Love“ kann ein guter Einstieg sein in eine indische Liebe.
In anderen Herzen
Das zweite Buch ist „In anderen Herzen“, ein politische Roman von Neel Mukherjee. Hier zeigt der in Indien gebürtige und im Ausland studierte Autor, wie eine indische Familie funktionieren kann.
Im Roman geht es um drei Generationen der reichen Familie Gosh, einer bengalischen Papierfabrikanten-Dynastie. Handlungszeitraum sind hauptsächlich die ausgehenden sechziger Jahre. Ein wenig erinnert es an die Buddenbrooks, auch hier geht ein Familienimperium zugrunde. Die erste Generation baut auf, die zweite verrennt sich und die letzte Generation ist schon gar nicht mehr zum Arbeiten zu gebrauchen, sie interessiert sich für Revolutionen, Liebschaften oder Drogen.
In der Familie herrscht wenig Liebe, dafür eine starke Hierarchie und große Härte. Es geht um die Ehre, das Ansehen und die Wirkung der Familie nach außen, was im Inneren zu Diskriminierungen führt.
„In anderen Herzen“ würde ich nur Indienkenner empfehlen. Es ist schwierig zu lesen mit all den spezifischen, familiären Bezeichnungen. In bengalischen Familien wird jedes Mitglied nach seinem jeweiligen Verwandtschaftsverhältnis zum Sprecher angeredet. In diesem Buch werden diese Anreden auf indische Art geführt (im Glossar erläutert), aber sie machen das Lesen mühsam. Trotzdem ist es in diesem Fall für die Geschichte notwendig, denn das Alter und das Verwandtschaftsverhältnis sind ausschlaggebend dafür, welchen Rang man in der Familie einnimmt und damit wieviel man vom Familienvermögen abbekommt.
Das Buch zeigt dem Leser, dem Nicht-Inder, wie das Kastensystem in eine Familie übertragen wurde, wie die Wertigkeit der Menschen gesehen wurde.
Die Geschichte ist zum Teil wirklich grausam, sie beschreibt nicht nur Ungerechtigkeiten innerhalb der Familie, sondern auch vor einem realen, historischen, politischen Hintergrund. Ein Handlungsstrang berichtet über die Naxalitenaufstände. Naxaliten ist die gängige Bezeichnung für maoistische Bewegungen in Indien. In den späten 60iger Jahren fand ein Bauernaufstand angeleitet vom linken Flügel der Kommunistischen Partei Indiens statt, dessen Ziel es war, das Land aus den Händen einiger weniger Großgrundbesitzern zu entreißen. Der Aufstand wurde mit Polizeigewalt niedergeschlagen.
Das Buch hat mir ein Indien eröffnet, dass ich nicht sehen kann, nicht einmal wenn ich dort bin, weil ich als Nicht-Inderin die kulturellen Codes der Bevölkerung nicht beherrschen kann. Es hat mir einen Schritt hinter die Fassade ermöglicht.
Esther Horvath
„Life with Love“
Novum Verlag für Neuautoren
Format: 30 x 30 cm
84 Seiten, 24.90€ (A)
Erschienen am 23.11.2010
ISBN: 978-3-99003-283-1
*Vielen Dank an den Verlag für das Buch!
Neel Mukherjee
„In anderen Herzen“
Verlag Antje Kunstmann
640 Seiten, 26€ (D)
Erschienen im März 2016
Übersetzt von Ditte Bandini, Giovanni Bandini
ISBN 978-3-95614-089-1