Ich wollte unbedingt einen Wälzer für den Urlaub. Auf meinem Nachtkästchen lag schon „Der Jonas Komplex“ von Thomas Glavinic, doch nach den ersten Seiten wusste ich, dass es nicht das Buch war, dass mir den Urlaub verschönern würde. (Ich habe tatsächlich später die Lektüre auf Seite 184 abgebrochen, weil mich die Konstruiertheit und Aufgeblasenheit dermaßen langweilte, einzig der Drogenstrang schien interessant. Glavinic werde ich vorläufig meiden) Also konsultierte ich die Bücherei, mit der Frage welche E-Books verfügbar waren. Vom jungen Grazer Autor Clemens J. Setz hatte ich „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ auf der Wunschliste, wo mir der Titel gut gefiel und die Besprechungen eher positiv und manchmal sogar ziemlich fasziniert waren.
Per Definition ist Alexander Dorm behindert. Er sitzt im Rollstuhl und lebt in einem betreuten Wohnheim. Natalie Reinegger, seine neue Betreuerin, scheint am ersten Blick eine normale junge Frau zu sein, die sich über ihren ersten Job freut. Sie war als Kind Epileptikerin und hat einen ganz spezielle, sehr detailreiche Wahrnehmung. Einzelne Worte können eine ganze Geschichte in ihr erzeugen. Außerdem hat sie ein sehr fragwürdiges Hobby. Sie nennt es „streunen gehen“. Dabei bietet sie wahllos unbekannten Männern Blowjobs an.
Und als Dritten im Bunde gibt es noch Christopher Hollberg, einen älterer Witwer, der Dorm regelmäßig im Heim besucht. Das wirkt von außen so lange ganz normal, bis man weiß, dass der Rollstuhlfahrer Dorm Hollberg früher gestalkt hat, bis sich dessen Frau umgebracht hat. Dorm musste die Tat im Gefängnis büßen und seit er wieder frei ist, hat sich dieses seltsame Besuchsarrangement eingestellt. Die Heimleitung betont, das wäre es zum Vorteil aller Beteiligten. Dorm himmelt Hollberg an und der hat seinen ehemaligen Stalker im Blick. Natalie ist von Anfang an misstrauisch und wird selbst immer mehr in die seltsame Beziehung der beiden hineingezogen.
Es geht um die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, die Grenzen zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Kontakt werden ausgelotet. Natalie ist sehr einsam. Sie führt ihre Beziehungen gerne online in Chats. Körperlich wird sie nur mit Unbekannten. Auch Dorm und Hollenberg sind alleine, jeder für sich gefangen in ihrem seltsamen lebensbestimmenden Arrangement. Die große Frage ist, wie bringe ich andere Menschen dazu, sich für mich zu interessieren, sich mit mir zu beschäftigen, mit mir Zeit zu verbringen? Von lieben wird hier gar nicht geredet, das würde schon einen Schritt weiter führen. Alle Beteiligten spielen Spielchen, alle handeln kalkuliert, jeder versucht zu manipulieren. Und das ganze Spiel bleibt bis zum Schluss spannend.
Die Unvorhersehbarkeit der Geschichte hat mich beim Lesen fasziniert. Wobei es für den ungewöhnlichen Plot wahrscheinlich keine 1000 Seiten Buchstärke gebraucht hätte. Die zweite, für mich noch wichtigere Kunst diese Buches war, die Sicht auf die Welt durch die Augen der hochsensiblen Natalie. Ihre Phantasie bereicherte meine trockene Alltagswahrnehmung enorm. Die starken Bilder der Geschichte habe ich noch tagelang mit mir herumgetragen. Da war ich für die vielen Seiten sehr dankbar, die mir ermöglichten, mit diesem Blick länger durch die Welt zu gehen.