Von Estland weiß ich nichts, weder Wahrzeichen, noch Nationalspeisen, noch Politik. Sofi Oksanen bietet in ihrem Roman „Fegefeuer“ einen Einblick in die Geschichte Estland. Seit 2014 Finnland Gastland der Frankfurter Buchmesse war, steht der Name der Autorin auf meiner Leseliste. Die auffällig gestylte Sofi Oksanen ist eine gebürtige Estin, lebt aber nun in Finnland.
Zara lebt in Wladiwostock, gemeinsam mit ihrer Mutter, die kaum spricht und ihrer Großmutter, die ständig in den Himmel schaut. Die Nachbarin fährt plötzlich mit einem Wagen und tollen Kleidern vor und verspricht Zara auch einen guten Job in Deutschland. Zara will die Mutter und die Großmutter mit Geld versorgen und hofft auf eine Studienmöglichkeit, sie lässt sich also darauf ein. Die Großmutter gibt ihr bei der Verabschiedung ein Foto von ihr und ihrer Schwester mit, die noch in Estland leben soll. Natürlich landet Zara als Prostituierte in den Händen zweier Männer. Indem sie einen Boss tötet, schafft sie die Flucht nach Estland zur Schwester der Großmutter.
Die alte Aliide lebt einsam und zurückgezogen in einem kleinen Ort und ist misstrauisch gegenüber dem jungen Mädchen, dass plötzlich zerlumpt vor ihrer Tür liegt. Zumal diese ihre Identität nicht verrät. Tante und Nichte spielen mit verdeckten Karten, langsam offenbart sich die Geschichte. Es geht um enttäuschte Liebe vor dem Hintergrund einer politisch instabile Zeit. Aiides Schwester Ingel war mit Hans, einem estischen Freiheitskämpfer verheiratet. Aiide begehrte ihn auch, doch sie hatte gegen die perfekte Ingel keine Chance. Sie muss schmerzerfüllt zusehen, wie das perfekte Paar ein Kind, Linde, bekommt. Hans wird zu sowjetischen Zeiten gesucht, die beiden Schwestern verstecken ihn einer verborgenen Kammer. Die Schwestern werden in mehreren Verhören geschunden und auch vor der kleinen Linde machen die Häscher nicht halt. Aiide sieht einen Ausweg, indem sie sich den extrem vorbildlich sowjettreuen Martin angelt, und als seine Frau einen gewissen Schutz genießt. Damit legt sie ihr Leben fest auf falschen Spiele, Taktierereien, Mißtrauen, Demütigungen und Heimlichkeiten, was zur Täterschaft in mehrfachem Sinne führt.
Für mich ist „Fegefeuer“ ein Frauenroman. Ein Frauenroman, wie er im besten Fall sein sollte. Geschrieben von einer Frau, über Frauen und für Frauen (und auch für Männer). Aber gleichzeitig vielschichtig, informativ, abseits von Klischees und überhaupt nicht kitschig. Es geht um Frauen in politischen Systemen. Unabhängiges Estland, Kommunismus, wieder Unabhängigkeit, Kapitalismus. Frauen als Opfer. Frauen als Täter. Männer sind Nebenfiguren. Da gibt es eine Stärke dieser geschundenen Frauen. Sie sind Spielball, aber sie ziehen auch Grenzen.
Ich war in der glücklichen Lage krank zu sein, als ich das Buch begonnen habe. So konnte ich meinem Drang zum Weiterlesen nur von Fieberschüben unterbrochen folgen. Das Buch ist extrem spannend, der Plot sehr gut aufgebaut. Die Charaktere sind glaubwürdig und bleiben in Erinnerung. Die Handlung wühlt auf. Ein starkes Stück!