Wörter wirken

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Wenn ich zuviel arbeite, wenn ich einen Abgabetermin habe, wenn ich die Wohnung für einen Besuch auf Vordermann bringen will, wenn ich wegen kranker Kinder zu wenig schlafe, wenn ich gefühlte hundert Dinge auf der Todo- Liste habe; kurz gesagt, wenn bei mir zuviel los ist, werde ich – sobald das Chaos vorbei ist – krank.

Nun habe ich eine vorbeugende Therapie entwickelt. Ich nehme Vitamintabletten (forte), ich meditieren mindestens 15 Minuten und ich lese vor dem Schlafengehen noch ein paar Seiten. Und das alles täglich, egal wie spät es schon ist. So hoffe ich die drohende Erkältung zu umschiffen. Und ich kann jetzt ganz vorsichtig sagen, es dürfte funktionieren.

Vor allem das Lesen hilft. Es gibt mir das Signal, alles ist halb so schlimm, alles ist zu schaffen, denn es ist ja immerhin noch Zeit zum Lesen da. Also zu dem, was ich früher zu Studienzeiten zuerst gestrichen habe. Das Lesen entspannt mich, es löst die hartnäckigen Arbeitsgedanken, es belohnt mich nach einem langen Tag, es tröstet mich und zeigt mir, dass es noch andere Dinge auf der Welt gibt.

Die heilende Wirkung des Lesens analysiert die Journalistin Andrea Gerk in ihrem Buch „Lesen als Medizin – die wundersame Wirkung der Literatur“. Gerk ist leidenschaftliche Leserin und hat sich gefragt, was Literatur zur Gesundheit des Menschen beitragen kann. Und sie kann wirklich vieles: sie kann ablenken, Zuflucht schaffen, spiegeln, Auswege zeigen, zum Reden bringen, Tor zur Welt sein, sie kann Richtlinien geben, sie kann erlösen.

All diese Wirkungen und noch viele mehr listet und betrachtet die Autorin. Das Buch ist ein wenig langweilig, wenn es um historische Abrisse geht, aber Gerk schreibt sehr erfrischend über persönliche Erlebnisse. Dieser Absatz könnte fast von mir sein

„Finde ich selbst keine Zeit zum Lesen, wird meine Laune noch bedenklicher, als sie angeblich ohnehin schon ist. Wahrscheinlich lese ich deshalb eigentlich immer irgendetwas: Die Beschriftung des Duschgels ebenso wie den inzwischen schon acht Jahre alten Aushang der Hausverwaltung oder die Schwarzfahrerwarnung in der U-Bahn. Ich fixiere die Buchstaben mit einer Mischung aus Gedankenverlorenheit und Manie. Während des Frühstücks, das dank der Kinder ein blutdruckstimulierendes Ereignis ist, starre ich auf das Etikett der Marmelade oder auf die Wortreihe „frische fettarme milch auch kontrolliert biologischer landwirtschaft – 1,5%fett“. Als ob man sich in der heiklen Verfassung, in der man sich morgens befindet, an den Buchstaben irgendwie festhalten könnte.“

Zu den theoretischen Erläuterungen und Selbstversuchen gibt es noch besondere Zuckerl für Lesewütige. Gerk fragte Autoren und die in dem Buch vorkommenden Personen nach ihren Lieblingsbüchern und das ergibt in Summe eine wunderbare, reiche Lesewunschliste.