Zum Weinen

T.C. Boyles Roman „América“ könnte es zum modernen Klassiker schaffen. Die Aktion Eine Stadt. Ein Buch hatte es zumindest schon 2013 als Gratisbuch für Wienerinnen und Wiener ausgewählt.

Verlässlich

Ich habe schon viele Bücher von T.C. Boyle gelesen. Die meisten mochte ich. Aber nie so sehr, dass er ein Lieblingsautor geworden wäre. Ich greife zu seinen Büchern, wenn ich gut recherchierte, verlässliche, aussagekräftige Unterhaltung brauche. Vor kurzem habe ich in der Bücherei „América“ (1995) gefunden.

Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich beim Lesen geweint habe, aber bei „América“ habe ich mehrmals mit den Tränen gekämpft.

Im Roman werden zwei Geschichten erzählt: die, des illegal eingewanderten, obdachlosen, mexikanischen Ehepaars Cándido und América und die, des gut situierten amerikanischen Naturkundlers Delaney. Delaney fährt Cándido am Beginn des Buches mit dem Auto an und gibt ihm 20 Dollar als Entschädigung. Von da an kreuzen sich ihre Wege mehrmals. Während Cándidos Leben immer schlimmer und aussichtsloser wird, steigert sich Delaney anfänglich eher liberale Haltung durch persönliche Schicksalsschläge in eine massive Ausländerfeindlichkeit. Vom Autor wird für beide Figuren keine Lösung angeboten, das furiose Finale lässt den Fortgang offen.

Gier als Antrieb

Obwohl ich etliche Kritikpunkte an dem Roman habe, schafft er es, mich mitzureißen und zum Denken anzuregen. Die hölzernen, etwas konstruiert wirkenden Figuren kann ich verzeihen, weil mir der Autor etwas anderes zeigt. Er erklärt, wie Eskalation funktionieren kann und dass jede Figur von sich glaubt im Recht zu sein, während sie etwas Falsches tut. Er zeigt, was die unausgewogenen Verteilung des Wohlstandes aus Menschen macht. Die Einen versuchen zumindest etwas zu bekommen, und sei es mit Gewalt. Die Anderen schrecken auch vor Gewalt nicht zurück, um das zu schützen, was sie haben. Den Einen geht es um das nackte Überleben, den anderen darum noch mehr auf Kosten Ärmerer zu schaffen.

Was mich weinen ließ, war nicht das Mitleid mit dem Figuren, sondern die Wut auf uns Menschen, auf unsere Gier.

Diese Emotion und der Umstand, dass es recht dünn ist, könnte „América“ zu T.C. Boyles bestem Buch machen, oder zumindest zum Einsteigerbuch für angehende T.C. Boye Fans.


T.C. Boyle
„América“
dtv Verlag
Taschenbuch
Coverbild América von T. C. Boyle, ISBN-978-3-423-12519-2
1. September 1998
978-3-423-12519-2

10,90€ [D]