Zeitgerechtes Lesen

Stell dir vor, du sitzt in der Straßenbahn, bist auf dem Weg in ihre Yogastunde und liest einen Roman. Weil dein Mann etwas zu spät von der Arbeit nach Hause gekommen ist, um den Sohnemann zu übernehmen, bist du selber etwas spät dran. Du hast vorgesorgt, indem du schon Yogakleidung unter dem Alltagsgewand tragst und du hast die Straßenbahn gleich erwischt und musst nicht umsteigen. Es wird sich also schon ausgehen. Du freust dich, dass du die Fahr mit Lesen verbringen kannst. Nachdem sie schon eine Weile gelesen haben, kommen sie zu dieser Stelle:

„Plötzlich ging die Tür auf, und Ted kam herein. Er blickte schuldbewußt auf die Uhr an der Wand. Nevada dachte an Sri Jenny, die aus absolute Pünktlichkeit bestanden hatte. Ein Konzept, dass sie von ihrem indischen Guru übernommen hatte: wer nicht pünktlich kommt, meint es nicht ernst. Und er kann es morgen noch einmal versuchen. Nevada hatte an diesem Prinzip festhalten wollen, doch Lakshmi fand es geschäftsschädigend. „Das entspricht einfach nicht der Realität unserer Schüler“, hatte sie gesagt. „Das sind moderne Menschen, immer im Stress, die rennen jeden Tag denselben zehn Minuten nach. Und diese zehn Minuten sollen sie hier wiederfinden, bei uns. Außerdem ist es besser, man kommt zu spät zum Yoga als gar nicht.“

Du schaust vom Buch auf. Die Straßenbahn steht schon etwas zu lange. Die Station, in der sie hält, liegt gar nicht an der gewohnten Streckenführung. Eine Durchsage erklärt, dass der Zug eingezogen wird und alle Passagiere bitte aussteigen mögen. Du bist nur mehr alleine im Wagon. Es muss also schon vorher Durchsagen gegeben haben.

Du steigst aus und überlegst. Du nimmst eine andere Straßenbahnlinie um zur gewohnten Straßenbahnlinie zurück zufahren. Dort siehst du, dass der nächste Zug ihrer Linie erst in 12 Minuten eintreffen würde. Du beschließt also die letzten vier Stationen zu Fuß zu gehen. Du erreichst das Yogastudio verschwitzt mit zehn Minuten Verspätung. Die anderen Schüler atmen schon tief auf der Matte. Du kannst nicht schuldbewusst auf die Wanduhr schauen, weil es keine gibt, du bittest mit einer Geste um Entschuldigung und bist froh, dass die Yogalehrerin einladend lächelt.

Danke an Milena Moser für „Montagsmenschen“ (S242). Obwohl der Roman einige Sprünge in den Figurenentwicklungen aufweist, ist er besonders am Weg zur Yogastunde empfehlenswert zu lesen.