Frau Krechel möchte schlank sein

In der Bücherei fand ich zufällig (ich hatte ohne Vorbestellung nicht zu hoffen gewagt) Ursula Krechels mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnetes Werk „Landgericht“. Freudig erzählte ich den beiden Bibliothekaren, dass ich gerade auf dem Weg zur Lesung aus diesem Werk sei. Sofort in der Straßenbahn begann ich zu lesen und es kostete mich zwei Drittel des Februars mich durch das Buch zu kämpfen.

Lesung

Im Programm der alten Schmiede war angekündigt, dass ihr Verleger Jochen Jung die Einleitung für die Autorin übernehmen würde. Nirgends stand, dass der ehrwürdige Hausherr Kurt Neumann ebenfalls eine langwierige Einleitung ins das Buch geben würde. Diese Einleitung mag zwar in Papierform gut formuliert und interessant erschienen sein, gesprochen vom Hausherren war sie das nicht. Jochen Jung sprach dann kurze, knackige Worte, er ging fast über vor Begeisterung über den Text. (Was kann man sich als Autor mehr von seinem Verleger wünschen). Die Lesung war lang, der Ausschnitt sehr gut gewählt, obwohl das am Beginn der Lesung noch nicht erkennbar war und mich eine viertel Stunde etwas missmutig zuhören ließ. Frau Krechel gab Einblicke in ihre Arbeitsweise, die viel Recherche bedarf, bevor nur ein Satz geschrieben wird. Der Roman basiert auf den Unterlagen einer Personalakte. Sie erzählte auch, dass sie Kontakt zur realen Familie ihrer Romanfigur hat.

Geschichte

Die Hauptfigur Richard Kornitzer lebt am Ausgangspunkt der Geschichte mit seiner Frau Claire in Berlin. Die beiden haben zwei Kinder Selma und Georg. Claire betreibt eine eigene Firma für Kinowerbung und Richard ist frischgebackener Richter. Mit Beginn des Tonfilms wird schön erzählt, wie der Ton auf den Straßen auch immer brüllender wird. Richard, ein Jude wird von seinem Amt vorzeitig pensioniert. Claire ist zwar Protestantin, aber durch ihre Ehe mit einem Juden wird sie auch gezwungen ihre Firma zu schlechten Konditionen zu verkaufen. Die beiden Kinder bringt das Ehepaar mit einem Kindertransport nach England in Sicherheit. Richard kann nach Kuba immigrieren, Claire muss in Deutschland bleiben. Nach dem zweiten Weltkrieg sieht sich das Ehepaar am Bodensee, wo Claire Arbeit gefunden hatte, wieder. Richard wird in das Landgericht Mainz berufen, seine Frau folgt ihn nach einiger Zeit, seine Kinder kann er aber nicht bewegen wieder zurück nach Deutschland zu kommen. So ist die Familie zerrissen, es schickt sich für Claire, als Frau eines Richters, auch nicht mehr im Kinogewerbe zu arbeiten, so wie sie es sich gewünscht hätte. Richard schreibt ein Gesuch nach Wiedergutmachung nach der anderen. Er will Recht bekommen, will seine Leiden anerkannt wissen, seine finanziellen Verluste, seine Ängste, aber die können mit Geld nicht einfach beziffert werden. Claire stirbt schließlich. Richards uneheliche Tochter aus Kuba kommt zu Besuch zu Richard, um weiter nach Paris auszuwandern. Richard bekommt einen Teil seines verlorenen Vermögens abgegolten, aber da ist er schon pensioniert, nervlich angeschlagen und herzkrank.

Sprache

Ich musste einen lauten Lacher unterdrücken, als Krechel von sich selbst sagte, sie sei eine schlanke Autorin. Körperlich trifft das zwar zu, aber angesichts der Romanstärke von 494 Seiten, die ich zur Lesung schleppte, konnte ich diese Ansicht gar nicht teilen. Ihre Prosa wuchert, und geht dabei in die Tiefe. Als Beispiel sei dieser schöne Satz über die Selbstvorwürfe einer berufstätigen Mutter herausgenommen:

„So weckte Claire ihren Mann, der morgen früh oder- wenn der ihm unsympathische Rechtsanwalt schlau und überlang plädierte – erst am Mittag ein Urteil fällen musste und warf sich vor, zu lange gezögert zu haben, das Mädchen und auch Richard, der ja zuhause war und Akten studierte, nicht instruiert zu haben, dem kränkelnden Kind jede halbe Stunde eine prüfende Hand auf die Stirn zu legen, ein Gefühl zu entwickeln für die Wärme, die sich zu einer ungewöhnlichen Hitze entfalten könnte, eine Empfindlichkeit, die im Zweifelsfall, wenn das Kind wirklich krank würde, auf die Mutter zurückfiele, nicht auf Cilly, die einen solchen Überblick noch nicht hatte, oder den Vater, von dem man eine so schlichte Geste des Handauflegens auf eine heiße (oder nur wärmer werdende) kleine Stirn gar nicht erwartete.“

Krechel hat die ihr im Original eingeflochtenen Dokumente von und über Kornitzer als Basis verwendet, um sich diesen trockenen Fakten mit den Mitteln der Prosa anzunähern. Dabei wird der Prosateil sehr plastisch, aber gleichzeitig auch zurückhaltend, respektvoll den Figuren gegenüber. Sie verwendet oft Einschübe in Klammern, die Möglichkeit andeuten, die zeigen, dass hier ihre Fantasie arbeitet. Sie lässt auch bewusst Passagen aus, das hat sie auch bei der Lesung betont, sie wollte die Figuren nicht ganz vereinnahmen. Von Claires Tod zum Beispiel erfährt der Leser aus einem Ansuchen Kornitzers um Wiedergutmachung.

Bedrückend

Was mich speziell bedrückt hat, war die Geschichte der Kinder in England. Die Kinder waren zwar immer beieinander, aber sie wuchsen in wechselnden Pflegefamilien auf, eine Zeit sogar in einem Heim, wo sie ein wenig sich selbst überlassen waren. Die Entfremdung von den Eltern kann niemanden verwundern und die Entwurzelung ist nicht wieder gut zu machen.

Trotz der handwerklichen Geschicklichkeit der Autorin, kostete es mich oft Überwindung den Roman zu lesen, denn das wahre Schicksal lässt einem nicht gut einschlafen.

Dieses passende und schöne Zitat stellt die Autorin voran:

„Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Joh. 1,11

Erstveröffentlichung: 2013-03-06 12:12